Notruf 144
Notruf 144
Simone Heim ist Mutter eines epilepsiebetroffenen 17jährigen Mädchens. Dank gut eingestellten Medikamenten ist die Tochter zurzeit anfallsfrei. Zuvor hatte sie mehrmals im Monat grosse Anfälle – auch unterwegs. Praktisch bei jedem öffentlichen Anfall kam es zum Notruf.
Die Familie Heim wohnt in Frutigen im Berner Oberland. Der Vater ist pensionierter Chirurg und die Mutter Hausfrau und Familienmanagerin. Der älteste Sohn ist Tierarzt, der zweite ist Radioreporter und der dritte befindet sich im Biologie- und Medizinstudium. Die jüngste Tochter machte im Sommer 2015 ihren Maturabschluss. Neira leidet seit sieben Jahren an Epilepsie.
Den ersten Grand-Mal-Anfall hatte sie in der Schule und wurde sofort ins Spital eingewiesen.
Im Schnitt waren es damals ungefähr acht bis zehn Anfälle pro Jahr. Diese Anfälle kamen aber sehr unregelmässig, manchmal zwei pro Monat, dann gab es wieder längere Pausen ohne Anfälle. Die Anfälle kamen ohne Vorankündigung; sie waren nicht tageszeitabhängig und dauerten zwischen zwei bis sieben Minuten.
Neira hatte tonisch-klonische Krämpfe, wobei sie auch stürzte. Nach den Anfällen besass Neira kein Bewusstsein über Zeit und Ort, sie wurde auch sehr schläfrig und die Schlafphasen danach dauerten nicht selten bis zu 12 Stunden. Zudem litt sie danach auch unter heftigem Erbrechen, Kopfschmerzen und sie war desorientiert!
Erst nach etwa 24 Stunden nach dem Anfall war ein Schulbesuch wieder möglich. Sie hatte dann aber Gedächtnislücken und zum Teil fehlte ihr der vorher erarbeitete Schulstoff gänzlich.
Für die Familie war es wichtig, die Personen rundherum über die Epilepsie aufzuklären. Dies sollte geschehen bevor das Umfeld einen Anfall miterlebt.
“Wir betonen immer, dass betroffene Menschen normal sind. Epilepsie ist einfach eine Funktionsstörung, die Anfälle auslösen kann.”
Trotz der Offenheit der Familie war der Schulbesuch nicht immer unproblematisch.
In der Schule mangelte es Neira teilweise an Konzentration, sie war aufgrund der Epilepsie oft ermüdet und sie verpasste durch die Anfälle einen Teil des Schulstoffs. Stigmatisierend war auch, dass sie bei Ausflügen und Schullagern ausgegrenzt wurde, da sie gar nicht teilnehmen durfte. Aufgrund der Unfallgefahr durfte sie auch nicht den Schwimmunterricht besuchen.
Schwierig war zudem, dass die Lehrpersonen oft mit ihrer Krankheit überfordert waren. Die Familie klärte die involvierten Personen über die Epilepsie von Neira auf und gab Anweisungen, was bei einem Anfall zu tun sei. Die Lehrpersonen wurden instruiert bei diesen grossen Anfällen den Rettungsdienst zu rufen.
Auch ging bei praktisch jedem weiteren Anfall, den Neira unterwegs hatte, ein Notruf ein! Pro Einsatz kamen die Kosten auf ungefähr 780 Franken. Die Familie wurde aktiv und suchte das Gespräch mit dem Rettungsdienst.
«Wir haben ein Abkommen mit der ortsansässigen Einsatzzentrale getroffen», erinnert sich Simone Heim.
«Neira wurde demnach nach einem Anfall, ob in der Schule, im öffentlichen Verkehr oder allgemein in der Umgebung von Bern, von der Sanität direkt nach Hause gefahren und nicht in eine Klinik eingewiesen. Einmal jedoch passierte es, dass sie aus Unkenntnis direkt ins Inselspital Bern gebracht wurde. Dort musste sie dann sogar mehrere Tage bleiben!»
Abgesehen von diesem einmaligen Fall, schätzt Simone Heim rückblickend die unkomplizierte Hilfe des Rettungsdienstes.

Die Familie wurde aktiv und suchte das Gespräch mit dem Rettungsdienst.
«Wir haben ein Abkommen mit der ortsansässigen Einsatzzentrale getroffen», erinnert sich Simone Heim.
«Neira wurde demnach nach einem Anfall, ob in der Schule, im öffentlichen Verkehr oder allgemein in der Umgebung von Bern, von der Sanität direkt nach Hause gefahren und nicht in eine Klinik eingewiesen. Einmal jedoch passierte es, dass sie aus Unkenntnis direkt ins Inselspital Bern gebracht wurde. Dort musste sie dann sogar mehrere Tage bleiben!» Abgesehen von diesem einmaligen Fall, schätzt Simone Heim rückblickend die unkomplizierte Hilfe des Rettungsdienstes.
“Es war für uns alle eine grosse Entlastung, dass die Sanität auf uns Angehörige eingegangen ist und wir zusammen eine gute Lösung finden konnten.”
Auch bei der Rettung SG kennt man die Komplexität bei epileptischen Anfällen.
In den letzten drei Jahren zählte der Rettungsdienst rund 1200 Einsätze, bei denen die Hauptdiagnose Krampfanfall lautete. Das ist hochgerechnet gut ein Einsatz pro Tag, allein in der Region St.Gallen. Unklar bleibt jedoch, um wie viele Epilepsiebetroffene es sich tatsächlich handelt, denn ein Krampfanfall bedeutet nicht gleich Epilepsie.
«Ein Krampfanfall kann viele Ursachen haben, daher kann nicht zwingend auf einen «normalen» epileptischen Anfall geschlossen werden, der in der Regel keine medizinische Intervention benötigt», erklärt André Wilmes, diplomierter Rettungssanitäter bei der Rettung SG. Aus der Statistik der Rettung SG geht hervor, dass es sich beim Grossteil dieser 1200 Ereignisse um mässige bis schwere, aber nicht lebensbedrohliche Störungen handelte, die eine stationäre Behandlung und häufig auch notärztliche Massnahmen vor Ort erfordern. Aber ist es dennoch zwingend nötig, bei einem Krampfanfall die Ambulanz zu rufen? Was, wenn eine bekannte Epilepsie vorliegt, der Anfall in Kürze vorbei ist und der Patient keine medizinische Versorgung benötigt.
«Grundsätzlich gilt bei allen Krampfanfällen, die sich nicht im Rahmen des vom Patienten oder vom behandelnden Arzt geschilderten Ausmasses befinden, ein Rettungseinsatz als angemessen» sagt André Wilmes und ergänzt: «Weil jedoch der Patient während eines Anfalls in der Regel keine Auskunft darüber geben kann, gilt: Im Zweifelsfall alarmieren!
Ein anschliessender Transport in die Klinik muss nicht zwingend stattfinden. Zudem kann der Einsatz durch die Sanitätsnotrufzentrale auch abgebrochen werden, wenn fälschlicherweise alarmiert wurde oder der Patient sich rasch erholt und keine Hilfe wünscht. Unser Grundsatz ist es, den Willen des Patienten zu respektieren, sofern dieser zum gegebenen Zeitpunkt zurechnungsfähig ist. Es ist wichtig, dass Patienten mit einer bekannten Epilepsie ihr Umfeld gut informieren und instruieren. Hilfreich ist auch, eine ‹Notfall-Instruktion› (SOSKarte) bei sich zu tragen.»
Die Kosten für den Notrufeinsatz müssen die Patienten zum grössten Teil selber bezahlen, was vor allem bei unerwünschten Einsätzen sehr ärgerlich sein kann. Sandra Wyss, Sozialversicherungsfachfrau bei Procap Luzern, Uri, Ob- und Nidwalden, ging für Epi-Suisse der Frage nach, welche Versicherungen sich an den medizinischen Transport- und Rettungskosten beteiligen oder diese sogar gänzlich übernehmen.
“Hilfreich ist auch, eine ‹Notfall-Instruktion› (SOSKarte) bei sich zu tragen.”

Gemäss der Leistungsverordnung Krankenpflege übernimmt die Grundversicherung der Krankenkasse 50% der Kosten von medizinisch indizierten Krankentransporten. Pro Kalenderjahr wird maximal ein Betrag von 500 Franken übernommen. Dieser Betrag ist aber minim, wenn man bedenkt, dass die Ambulanzkosten pro Einsatz mehrere hundert Franken betragen.
Je nach Kanton variieren die Kosten von 700 bis 1400 Franken für einen Notrufeinsatz bei Beeinträchtigung der Vitalfunktion. Notarzt und Nachtzuschlag kosten noch zusätzlich. Bei den Zusatzversicherungen kommt es auf die einzelne Versicherung an.
Zudem darf die Epilepsie bei Abschluss der Versicherung noch nicht bestanden haben. Falls der Versicherungsfall bei Vertragsabschluss bereits eingetreten ist, besteht grundsätzlich keine Leistungspflicht. Deshalb sind Zusatzversicherungen zur Übernahme von Transportkosten nur hilfreich, wenn die Versicherung vor Bestehen der Epilepsie abgeschlossen wurde.
Die Kostenübernahme für medizinische Heilbehandlungen ist grundsätzlich Sache der Krankenkasse. Bei Kindern und jungen Erwachsenen mit anerkanntem Geburtsgebrechen und IV-Kostengutsprache für medizinische Massnahmen kommt eine Kostenübernahme der Invalidenversicherung in Frage. Dies hat sich auch bei der Familie Heim so ergeben. Da die Krankenversicherung die Kosten für die Transportfahrten nicht übernahm, hat die Familie mit der Invalidenversicherung das Gespräch gesucht. Mit der IV konnten sie die Abmachung treffen, dass diese die Kosten für den Ambulanztransport übernimmt. «Im Endeffekt kommt ein Transport nach Hause immer noch um einiges günstiger als ein stationärer Aufenthalt in einem Spital», fügt Simone Heim an. «In unserem Fall hat die IV die vollen Kosten für den Transport mit der Ambulanz übernommen.»

Sandra Wyss bestätigt, dass die Invalidenversicherung bei Kindern häufiger die Kosten für Ambulanzeinsätze übernimmt als bei Erwachsenen. Denn bei Vorliegen eines Geburtsgebrechens übernimmt die IV bis zum vollendeten 20. Altersjahr die Rolle der Krankenversicherung. Ein Geburtsgebrechen im Sinne der IV liegt vor, wenn die Epilepsie angeboren ist.
Davon ausgenommen sind Formen, bei denen eine antikonvulsive Therapie nicht oder nur während eines Anfalls notwendig ist.
Bei Vorliegen eines anerkannten Geburtsgebrechens übernimmt die IV die ganzen Kosten aller notwendigen ambulanten und stationären medizinischen Behandlungen, das heisst Arztkosten, Kosten für Medikamente und Spitalaufenthalte sowie Kosten für die notwendigen Behandlungsgeräte.
Die Leistungen der IV sind grosszügiger als die Leistungen der Krankenkasse, da die IV keine Franchise und keine Selbstbehalte kennt. Darüber hinaus besteht eine freie Arztwahl, und Kostengutsprachen gelten über einen längeren Zeitraum als bei der Krankenversicherung.
Die IV übernimmt aber nur diejenigen medizinischen Massnahmen, die im direkten Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen stehen, und nur die medizinischen Massnahmen, die notwendig sind. Für eine Kostenübernahme muss der Ambulanzeinsatz zwingend im Zusammenhang mit der angeborenen Epilepsie stehen. Nach Vollendung des 20. Altersjahrs besteht kein Anspruch mehr auf Leistungen der Invalidenversicherung zur Behandlung des Geburtsgebrechens.
Volljährigen Betroffenen, die auf eine IV-Rente und Ergänzungsleistungen angewiesen sind, empfiehlt Sandra Wyss, die ungedeckten Kosten für Ambulanzeinsätze im Rahmen der Krankheits- und Behinderungskosten bei der Durchführungsstelle für Ergänzungsleisten einzureichen, damit eine Rückerstattung geprüft wird. Da die Krankheits- und Behinderungskosten durch die Kantone vergütet werden, bestehen jedoch kantonal unterschiedliche Regelungen.
Kommt keine der erwähnten Versicherungen für die Kosten der Ambulanzeinsätze auf, sollte mit dem Rettungsdienst Kontakt aufgenommen und mit ihm verhandelt werden. Es empfiehlt sich nachzufragen, ob der Rettungsdienst bereit ist, die Kosten zu reduzieren. Ist dies nicht möglich, hat der Betroffene die Kosten zu tragen, auch wenn dieser nicht gewollt hat, dass der Rettungsdienst kommt. Grundsätzlich gilt also: mit dem Rettungsdienst sprechen und auf eine Reduktion der Kosten für den Ambulanzeinsatz hoffen.
Der offene Diskurs hat auch die Familie Heim stets weitergebracht. «Ich habe gelernt zu verhandeln, zu besprechen und zu fordern. Epilepsie ist eine Krankheit, die belastet; im Mindesten sollte dies nicht auch noch finanziell der Fall sein», bestärkt Simone Heim und fügt an: «Und übrigens, Neira hat nun seit gut einem Jahr einen Partner gefunden, der sie vollumfänglich trägt. Sie ist überglücklich und hat seit dieser Zeit keine Anfälle mehr! Die Medikamente sind um ein Drittel reduziert worden. Also: Ein normales Leben ist möglich, man muss nur die passende Lösung miteinander suchen und die Epilepsiebetroffenen nicht ausgrenzen.»
“Ein normales Leben ist möglich, man muss nur die passende Lösung miteinander suchen und die Epilepsiebetroffenen nicht ausgrenzen.”