Notruf 144

  • My.EpiCoach • 26. Mai 2016

Notruf 144

  • My.EpiCoach • 26. Mai 2016

Simone Heim ist Mutter eines epilep­sie­be­trof­fenen 17jährigen Mädchens. Dank gut einge­stellten Medi­ka­menten ist die Tochter zurzeit anfalls­frei. Zuvor hatte sie mehrmals im Monat grosse Anfälle – auch unter­wegs. Prak­tisch bei jedem öffent­li­chen Anfall kam es zum Notruf.

Die Familie Heim wohnt in Frutigen im Berner Oberland. Der Vater ist pensio­nierter Chirurg und die Mutter Hausfrau und Fami­li­en­ma­na­gerin. Der älteste Sohn ist Tierarzt, der zweite ist Radio­re­porter und der dritte befindet sich im Biologie- und Medi­zin­stu­dium. Die jüngste Tochter machte im Sommer 2015 ihren Matur­ab­schluss. Neira leidet seit sieben Jahren an Epilepsie.

Den ersten Grand-Mal-Anfall hatte sie in der Schule und wurde sofort ins Spital eingewiesen.

Im Schnitt waren es damals ungefähr acht bis zehn Anfälle pro Jahr. Diese Anfälle kamen aber sehr unre­gel­mässig, manchmal zwei pro Monat, dann gab es wieder längere Pausen ohne Anfälle. Die Anfälle kamen ohne Vorankün­di­gung; sie waren nicht tages­zeit­ab­hängig und dauerten zwischen zwei bis sieben Minuten.

Neira hatte tonisch-kloni­­sche Krämpfe, wobei sie auch stürzte. Nach den Anfällen besass Neira kein Bewusst­sein über Zeit und Ort, sie wurde auch sehr schläfrig und die Schlaf­phasen danach dauerten nicht selten bis zu 12 Stunden. Zudem litt sie danach auch unter heftigem Erbre­chen, Kopf­schmerzen und sie war desori­en­tiert!
Erst nach etwa 24 Stunden nach dem Anfall war ein Schul­be­such wieder möglich. Sie hatte dann aber Gedächt­nis­lü­cken und zum Teil fehlte ihr der vorher erar­bei­tete Schul­stoff gänzlich.

Für die Familie war es wichtig, die Personen rund­herum über die Epilepsie aufzu­klären. Dies sollte geschehen bevor das Umfeld einen Anfall miterlebt.

Wir betonen immer, dass betrof­fene Menschen normal sind. Epilepsie ist einfach eine Funk­ti­ons­stö­rung, die Anfälle auslösen kann.”

Trotz der Offen­heit der Familie war der Schul­be­such nicht immer unpro­ble­ma­tisch.
In der Schule mangelte es Neira teil­weise an Konzen­tra­tion, sie war aufgrund der Epilepsie oft ermüdet und sie verpasste durch die Anfälle einen Teil des Schul­stoffs. Stig­ma­ti­sie­rend war auch, dass sie bei Ausflügen und Schul­la­gern ausge­grenzt wurde, da sie gar nicht teil­nehmen durfte. Aufgrund der Unfall­ge­fahr durfte sie auch nicht den Schwimm­un­ter­richt besuchen.

Schwierig war zudem, dass die Lehr­per­sonen oft mit ihrer Krank­heit über­for­dert waren. Die Familie klärte die invol­vierten Personen über die Epilepsie von Neira auf und gab Anwei­sungen, was bei einem Anfall zu tun sei. Die Lehr­per­sonen wurden instru­iert bei diesen grossen Anfällen den Rettungs­dienst zu rufen.

Auch ging bei prak­tisch jedem weiteren Anfall, den Neira unter­wegs hatte, ein Notruf ein! Pro Einsatz kamen die Kosten auf ungefähr 780 Franken. Die Familie wurde aktiv und suchte das Gespräch mit dem Rettungsdienst.

«Wir haben ein Abkommen mit der orts­an­säs­sigen Einsatz­zen­trale getroffen», erinnert sich Simone Heim.
«Neira wurde demnach nach einem Anfall, ob in der Schule, im öffent­li­chen Verkehr oder allge­mein in der Umgebung von Bern, von der Sanität direkt nach Hause gefahren und nicht in eine Klinik einge­wiesen. Einmal jedoch passierte es, dass sie aus Unkenntnis direkt ins Insel­spital Bern gebracht wurde. Dort musste sie dann sogar mehrere Tage bleiben!»
Abge­sehen von diesem einma­ligen Fall, schätzt Simone Heim rück­bli­ckend die unkom­pli­zierte Hilfe des Rettungsdienstes.

Notruf 144

Die Familie wurde aktiv und suchte das Gespräch mit dem Rettungs­dienst.
«Wir haben ein Abkommen mit der orts­an­säs­sigen Einsatz­zen­trale getroffen», erinnert sich Simone Heim.
«Neira wurde demnach nach einem Anfall, ob in der Schule, im öffent­li­chen Verkehr oder allge­mein in der Umgebung von Bern, von der Sanität direkt nach Hause gefahren und nicht in eine Klinik einge­wiesen. Einmal jedoch passierte es, dass sie aus Unkenntnis direkt ins Insel­spital Bern gebracht wurde. Dort musste sie dann sogar mehrere Tage bleiben!» Abge­sehen von diesem einma­ligen Fall, schätzt Simone Heim rück­bli­ckend die unkom­pli­zierte Hilfe des Rettungsdienstes.

Es war für uns alle eine grosse Entlas­tung, dass die Sanität auf uns Ange­hö­rige einge­gangen ist und wir zusammen eine gute Lösung finden konnten.”

Auch bei der Rettung SG kennt man die Komple­xität bei epilep­ti­schen Anfällen.
In den letzten drei Jahren zählte der Rettungs­dienst rund 1200 Einsätze, bei denen die Haupt­dia­gnose Krampf­an­fall lautete. Das ist hoch­ge­rechnet gut ein Einsatz pro Tag, allein in der Region St.Gallen. Unklar bleibt jedoch, um wie viele Epilep­sie­be­trof­fene es sich tatsäch­lich handelt, denn ein Krampf­an­fall bedeutet nicht gleich Epilepsie.

«Ein Krampf­an­fall kann viele Ursachen haben, daher kann nicht zwingend auf einen «normalen» epilep­ti­schen Anfall geschlossen werden, der in der Regel keine medi­zi­ni­sche Inter­ven­tion benötigt», erklärt André Wilmes, diplo­mierter Rettungs­sa­ni­täter bei der Rettung SG. Aus der Statistik der Rettung SG geht hervor, dass es sich beim Gross­teil dieser 1200 Ereig­nisse um mässige bis schwere, aber nicht lebens­be­droh­liche Störungen handelte, die eine statio­näre Behand­lung und häufig auch notärzt­liche Mass­nahmen vor Ort erfor­dern. Aber ist es dennoch zwingend nötig, bei einem Krampf­an­fall die Ambulanz zu rufen? Was, wenn eine bekannte Epilepsie vorliegt, der Anfall in Kürze vorbei ist und der Patient keine medi­zi­ni­sche Versor­gung benötigt.

«Grund­sätz­lich gilt bei allen Krampf­an­fällen, die sich nicht im Rahmen des vom Pati­enten oder vom behan­delnden Arzt geschil­derten Ausmasses befinden, ein Rettungs­ein­satz als ange­messen» sagt André Wilmes und ergänzt: «Weil jedoch der Patient während eines Anfalls in der Regel keine Auskunft darüber geben kann, gilt: Im Zwei­fels­fall alarmieren!
Ein anschlies­sender Trans­port in die Klinik muss nicht zwingend statt­finden. Zudem kann der Einsatz durch die Sani­täts­not­ruf­zen­trale auch abge­bro­chen werden, wenn fälsch­li­cher­weise alar­miert wurde oder der Patient sich rasch erholt und keine Hilfe wünscht. Unser Grund­satz ist es, den Willen des Pati­enten zu respek­tieren, sofern dieser zum gege­benen Zeit­punkt zurech­nungs­fähig ist. Es ist wichtig, dass Pati­enten mit einer bekannten Epilepsie ihr Umfeld gut infor­mieren und instru­ieren. Hilf­reich ist auch, eine ‹Notfall-Instruk­­tion› (SOSKarte) bei sich zu tragen.»

procap

Die Kosten für den Notru­f­ein­satz müssen die Pati­enten zum grössten Teil selber bezahlen, was vor allem bei uner­wünschten Einsätzen sehr ärger­lich sein kann. Sandra Wyss, Sozi­al­ver­si­che­rungs­fach­frau bei Procap Luzern, Uri, Ob- und Nidwalden, ging für Epi-Suisse der Frage nach, welche Versi­che­rungen sich an den medi­zi­ni­schen Tran­s­­port- und Rettungs­kosten betei­ligen oder diese sogar gänzlich übernehmen.

Hilf­reich ist auch, eine ‹Notfall-Instruk­­tion› (SOSKarte) bei sich zu tragen.”

Gemäss der Leis­tungs­ver­ord­nung Kran­ken­pflege über­nimmt die Grund­ver­si­che­rung der Kran­ken­kasse 50% der Kosten von medi­zi­nisch indi­zierten Kran­ken­trans­porten. Pro Kalen­der­jahr wird maximal ein Betrag von 500 Franken über­nommen. Dieser Betrag ist aber minim, wenn man bedenkt, dass die Ambu­lanz­kosten pro Einsatz mehrere hundert Franken betragen.
Je nach Kanton vari­ieren die Kosten von 700 bis 1400 Franken für einen Notru­f­ein­satz bei Beein­träch­ti­gung der Vital­funk­tion. Notarzt und Nacht­zu­schlag kosten noch zusätz­lich. Bei den Zusatz­ver­si­che­rungen kommt es auf die einzelne Versi­che­rung an.

Zudem darf die Epilepsie bei Abschluss der Versi­che­rung noch nicht bestanden haben. Falls der Versi­che­rungs­fall bei Vertrags­ab­schluss bereits einge­treten ist, besteht grund­sätz­lich keine Leis­tungs­pflicht. Deshalb sind Zusatz­ver­si­che­rungen zur Über­nahme von Trans­port­kosten nur hilf­reich, wenn die Versi­che­rung vor Bestehen der Epilepsie abge­schlossen wurde.
Die Kosten­über­nahme für medi­zi­ni­sche Heil­be­hand­lungen ist grund­sätz­lich Sache der Kran­ken­kasse. Bei Kindern und jungen Erwach­senen mit aner­kanntem Geburts­ge­bre­chen und IV-Kosten­­gu­t­sprache für medi­zi­ni­sche Mass­nahmen kommt eine Kosten­über­nahme der Inva­li­den­ver­si­che­rung in Frage. Dies hat sich auch bei der Familie Heim so ergeben. Da die Kran­ken­ver­si­che­rung die Kosten für die Trans­port­fahrten nicht übernahm, hat die Familie mit der Inva­li­den­ver­si­che­rung das Gespräch gesucht. Mit der IV konnten sie die Abma­chung treffen, dass diese die Kosten für den Ambu­lanz­trans­port über­nimmt. «Im Endef­fekt kommt ein Trans­port nach Hause immer noch um einiges güns­tiger als ein statio­närer Aufent­halt in einem Spital», fügt Simone Heim an. «In unserem Fall hat die IV die vollen Kosten für den Trans­port mit der Ambulanz über­nommen.»

Neira

Sandra Wyss bestä­tigt, dass die Inva­li­den­ver­si­che­rung bei Kindern häufiger die Kosten für Ambu­lanz­ein­sätze über­nimmt als bei Erwach­senen. Denn bei Vorliegen eines Geburts­ge­bre­chens über­nimmt die IV bis zum voll­endeten 20. Alters­jahr die Rolle der Kran­ken­ver­si­che­rung. Ein Geburts­ge­bre­chen im Sinne der IV liegt vor, wenn die Epilepsie ange­boren ist.
Davon ausge­nommen sind Formen, bei denen eine anti­kon­vul­sive Therapie nicht oder nur während eines Anfalls notwendig ist.
Bei Vorliegen eines aner­kannten Geburts­ge­bre­chens über­nimmt die IV die ganzen Kosten aller notwen­digen ambu­lanten und statio­nären medi­zi­ni­schen Behand­lungen, das heisst Arzt­kosten, Kosten für Medi­ka­mente und Spital­auf­ent­halte sowie Kosten für die notwen­digen Behandlungsgeräte.

Die Leis­tungen der IV sind gross­zü­giger als die Leis­tungen der Kran­ken­kasse, da die IV keine Fran­chise und keine Selbst­be­halte kennt. Darüber hinaus besteht eine freie Arztwahl, und Kosten­gut­spra­chen gelten über einen längeren Zeitraum als bei der Kran­ken­ver­si­che­rung.
Die IV über­nimmt aber nur dieje­nigen medi­zi­ni­schen Mass­nahmen, die im direkten Zusam­men­hang mit dem Geburts­ge­bre­chen stehen, und nur die medi­zi­ni­schen Mass­nahmen, die notwendig sind. Für eine Kosten­über­nahme muss der Ambu­lanz­ein­satz zwingend im Zusam­men­hang mit der ange­bo­renen Epilepsie stehen. Nach Voll­endung des 20. Alters­jahrs besteht kein Anspruch mehr auf Leis­tungen der Inva­li­den­ver­si­che­rung zur Behand­lung des Geburtsgebrechens.

Voll­jäh­rigen Betrof­fenen, die auf eine IV-Rente und Ergän­zungs­leis­tungen ange­wiesen sind, empfiehlt Sandra Wyss, die unge­deckten Kosten für Ambu­lanz­ein­sätze im Rahmen der Kran­k­heits- und Behin­de­rungs­kosten bei der Durch­füh­rungs­stelle für Ergän­zungs­leisten einzu­rei­chen, damit eine Rück­erstat­tung geprüft wird. Da die Kran­k­heits- und Behin­de­rungs­kosten durch die Kantone vergütet werden, bestehen jedoch kantonal unter­schied­liche Regelungen.

Kommt keine der erwähnten Versi­che­rungen für die Kosten der Ambu­lanz­ein­sätze auf, sollte mit dem Rettungs­dienst Kontakt aufge­nommen und mit ihm verhan­delt werden. Es empfiehlt sich nach­zu­fragen, ob der Rettungs­dienst bereit ist, die Kosten zu redu­zieren. Ist dies nicht möglich, hat der Betrof­fene die Kosten zu tragen, auch wenn dieser nicht gewollt hat, dass der Rettungs­dienst kommt. Grund­sätz­lich gilt also: mit dem Rettungs­dienst sprechen und auf eine Reduk­tion der Kosten für den Ambu­lanz­ein­satz hoffen.

Der offene Diskurs hat auch die Familie Heim stets weiter­ge­bracht. «Ich habe gelernt zu verhan­deln, zu bespre­chen und zu fordern. Epilepsie ist eine Krank­heit, die belastet; im Mindesten sollte dies nicht auch noch finan­ziell der Fall sein», bestärkt Simone Heim und fügt an: «Und übrigens, Neira hat nun seit gut einem Jahr einen Partner gefunden, der sie voll­um­fäng­lich trägt. Sie ist über­glück­lich und hat seit dieser Zeit keine Anfälle mehr! Die Medi­ka­mente sind um ein Drittel redu­ziert worden. Also: Ein normales Leben ist möglich, man muss nur die passende Lösung mitein­ander suchen und die Epilep­sie­be­trof­fenen nicht ausgrenzen.»

Ein normales Leben ist möglich, man muss nur die passende Lösung mitein­ander suchen und die Epilep­sie­be­trof­fenen nicht ausgrenzen.”

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