Zwischen Pausenapfel und Leuchtbändel
Zwischen Pausenapfel und Leuchtbändel
Die Kinder sitzen im Kreis auf kleinen Bänken, die Kindergärtnerin stellt der Gruppe ein neues Lied vor. Mittendrin ist die vierjährige Flora, die blonden Locken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Dass sie Epilepsie hat, merkt von Aussen niemand.
Der erste Anfall geschah kurz vor Floras drittem Geburtstag. Es passierte während dem Mittagsschlaf in der Kindertagesstätte. Auch der zweite und der dritte Anfall passierten jeweils in der Krippe immer während der Mittagspause.
Erst den vierten Anfall haben die Eltern miterlebt, als sie im Sommer in den Ferien waren und Flora im Auto schlief. Die Mutter erinnert sich noch genau an dieses einschneidende Ereignis:
“Flora hatte einen starren Blick nach rechts oben und starre, unbewegte Extremitäten. Wir haben sie nur schwer aus dem Autositz bekommen. Mein Mann verabreichte ihr sofort das Notfallmedikament.
Nach ein paar Minuten kam sie langsam wieder zu sich. Wir wussten ja, dass sie epileptische Anfälle hat. Aber als wir es das erste Mal selbst erlebten, waren wir sehr geschockt.”

Zu dieser Zeit besuchte Flora an drei Tagen die Woche eine Kindertagesstätte. «Wir hatten sehr grosses Glück. Die damaligen Betreuerinnen in der Kita haben sich sofort auf die neue Situation eingestellt. Wir haben sie genau instruiert, wie sie bei einem Anfall reagieren müssen, und gaben das Reservemedikament ab.
Beim zweiten und dritten Anfall wurden die Instruktionen genauestens befolgt, und so verliefen die Anfälle ohne Zwischenfälle. Es war für uns ein sehr gutes Gefühl, zu wissen, dass Flora in der Kita so gut umsorgt wird», erzählt die Mutter. Für die Familie und auch für ihre Freunde hat Floras Anfallsleiden nie ein Problem dargestellt. Flora spielt bei Nachbarskindern oder übernachtet bei ihren Freundinnen.
Wie die Betreuerinnen der Kita wurden auch die beteiligten Eltern eingehend instruiert. Frau Fischer schätzt die grosse Offenheit in ihrem Umfeld: «Bis jetzt gab es niemanden im Freundeskreis, der Bedenken oder Ängste uns gegenüber geäussert hat. Wir wissen, dass das nicht selbstverständlich ist.»

Nach den Sommerferien stand der Übertritt in den städtischen Kindergarten bevor. «Auf Grund der guten Erfahrungen in der Kita haben wir uns im Vorfeld gar nicht so viele Sorgen gemacht. Die einzige Sorge bestand für uns beim Weg zum Kindergarten respektive zum Hort, den Flora irgendwann allein gehen sollte», erzählt die Mutter und ergänzt: «Spätestens als wir einen Anruf von der Schulärztin bekamen und sie uns zur Erkrankung unserer Tochter befragte, wurde uns das erste Mal bewusst, dass Floras Einschulung mit besonderen Massnahmen, aber vor allem mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden ist.» Zum damaligen Zeitpunkt gab es im Schulhaus kein Kind mit Epilepsie.
An diese Ängste erinnert sich auch die Kindergärtnerin: «Meine Angst war in erster Linie, nicht zu wissen, wie ich bei einem Anfall reagieren muss. Ich hatte anfangs viele Fragen: Kann ich etwas falsch machen? Wie reagieren die anderen Kinder, wenn Flora einen Anfall hat? Muss ich sie ständig im Auge behalten? Wie viel Mehraufwand wird es sein? Muss ich in der Raumeinrichtung etwas beachten?»
Anfängliche Bedenken hatte auch das Betreuungspersonal im Hort. Infrage gestellt wurde, ob in der Betreuung jederzeit die nötige Aufsicht gewährleistet werden kann, um im Falle eines Anfalls schnell genug und richtig reagieren zu können. Das Szenario, dass ausgerechnet in der Anfangszeit und während der Kennenlernphase aller Kinder ein schlimmer Anfall auftreten könnte, beunruhigte das Betreuungsteam.
Die Schulleitung berief einige Wochen vor der Einschulung einen runden Tisch ein. Gemeinsam mit der Schulärztin informierten die Eltern über Floras Epilepsie und gaben ihnen die Anweisungen für den Fall eines Anfalls. So konnten sich alle Fachpersonen im Schulhaus (Schulleiterin, Schulärztin, Kindergartenlehrperson, Heilpädagogin, Leitung Betreuung und das Betreuungspersonal) auf die Situation einstellen und Unsicherheiten ansprechen. Das Schulteam und die Eltern sind sich einig: «Die grösste Hilfe war mit Sicherheit die Information und Aufklärung im Vorfeld. Das gab auch uns Eltern Sicherheit.
Flora geht seither jeden Tag mit Freude in den Kindergarten und berichtet begeistert von ihren Erlebnissen dort.» Die Kindergärtnerin fügt an: «Durch das Gespräch konnte ich alle meine Fragen und Unsicherheiten klären. Da erhielten wir alle nötigen Informationen, den Notfallplan und die Medikamente und wussten danach, was auf uns zukommt. Von der Mutter habe ich zudem die Epi-Suisse-Broschüre ‹Kinder mit Epilepsie› bekommen und natürlich habe ich auch selber ein wenig recherchiert.»

Floras Einstieg in den Kindergarten verlief sehr gut. Mittlerweile hat sie sich gut eingelebt und Vertrauen gefasst.
Die Kindergärtnerin bestätigt:
«Der Eintritt in den Kindergarten verlief bei Flora wie bei jedem anderen Kind. Sie war anfangs schüchtern, hat viel beobachtet und ist dann immer mehr aufgetaut. Ich denke nicht, dass wir bei Floras Einstieg irgendetwas anders gemacht haben. Sicherlich auch, weil Flora erst wenige Anfälle hatte und wenn, dann immer in der Aufwachphase nach dem Mittagsschlaf. Für mich ist zudem klar geworden, dass wir vielleicht gar nie in die Situation eines Anfalls kommen. Aus diesem Grund habe ich Flora und die anderen Kinder auch nicht speziell darauf vorbereitet. Da Floras Epilepsie für mich bis anhin nicht ‹sichtbar› ist, vergesse ich sie auch oft ein wenig. Mit dem Notfallplan fühle ich mich sicher.»

Die anfänglichen Bedenken haben sich auch beim Betreuungspersonal schnell verflüchtigt.
«Es war für uns wichtig, uns über die Krankheit zu informieren und uns durch die Eltern genaue Instruktionen geben zu lassen. So beobachten wir Flora ganz besonders gut im Ruheraum während der Mittagspause. Da sie ausschliesslich Anfälle in der Aufwachphase hatte, schauen wir, dass sie nicht einschläft.», berichtet die Hortleiterin und empfiehlt: «Bei Unsicherheiten nachzufragen ist wichtig und hilft Ängste und Unsicherheiten abzubauen.»
Dies unterstreicht auch Floras Mutter:
“Eltern sollten frühzeitig Kontakt mit den Lehrpersonen und Mitarbeitenden im Hort aufnehmen, um Notfallpläne, Medikamentengabe oder besondere Bedürfnisse der Kinder zu besprechen.
Als Eltern eines epilepsiebetroffenen Kindes hat man Routine im Umgang mit den Anfällen und vergisst, dass viele Menschen noch nie Kontakt mit Epilepsie hatten und somit oft Bedenken, Berührungsängste oder sogar falsche Vorstellungen von der Erkrankung haben.
Wir Eltern können gemeinsam mit unseren Kindern helfen, diese Ängste abzubauen.”